Ich schrieb einige Dinge im Fedi, und wurde gebeten, die hier in einen Blogpost zu kippen. Dies ist größtenteils eine unbearbeitete Kopie der Postings, und nicht die übliche Form Fließtext für das Blog. Das tut mir leid.
Veränderung nicht verstehen ist leicht. Wenn man 16 Jahre Kohl, 7 Jahre Schröder und 16 Jahre Merkel gesehen hat, dann sind das fast 40 Jahre Stagnation, die Abwesenheit von Veränderung in der Politik.
Aber die Welt hat sich verändert. Sehr.
Zum Beispiel: Die Anzahl der PKW in Deutschland hat sich seit 1985 von 25 Millionen auf 50 Millionen verdoppelt.
Und die Autos selbst haben sich auch verdoppelt.
Quelle Golf vs. ID.3
Quelle Mini vs. Mini
CO₂-Level haben sich von einer vorindustriellen Baseline von 285 ppm auf 420 ppm in 2024 erhöht. Das ist eine Veränderung von 135 ppm, und eine Verdoppelung des menschlichen CO₂-Eintrages seit 1985, von 352 ppm auf 420 ppm.
Das mit der Klimakatastrophe waren wir, nicht unsere Eltern oder Großeltern. Wir haben das menschengemachte CO₂ in der Atmosphäre seit 1985 verdoppelt. Im vollen Wissen um die Folgen.
Quelle 285 ppm vorindustriell, 352 ppm in 1965, 420 ppm jetzt.
Die Bevölkerung der Welt hat sich von 1974 bis heute verdoppelt, von 4 Milliarden auf 8 Milliarden Menschen. Sie wächst nicht mehr und wird laut Modell in 2086 oder so einen Spitzenwert von 10 Milliarden erreichen, aber das Modell berücksichtigt keine Klimakatastrophe oder andere Einwirkungen, die Mortalität erhöhen oder die Geburtenrate senken.
Quelle , die Weltbevölkerung war 4 Milliarden in 1974, und liegt jetzt bei 8 Milliarden.
Die Welt, in der ihr groß geworden seid, bzw. die Welt mit der Struktur der Arbeit und den Methoden, die mal funktioniert haben, existiert nicht mehr. Die Politik, die ihr kennt, könnt Ihr nicht fortsetzen, weil ihre Methoden nicht mehr adäquat sind. Wenn man sich hinstellt, mit dem Fuß aufstampft und “Ich will aber” wählt, dann wird das nicht funktionieren, weil die Methode nicht mehr zum Problem paßt.
Aber das werden wir jetzt im Detail ausprobieren.
Teile der Welt verändern sich übrigens noch schneller.
So hat sich die installierte Solarleistung zwischen 2019 und 2022 einfach mal eben so verdoppelt und der Trend beschleunigt sich.
Quelle . PV Installation in der Welt, Summe über Zeit.
Die Kosten haben sich seit 2012 geviertelt, und seit 2017 halbiert.
Quelle . Die PV Kosten sinken linear seit 1975, und bisher ist das Ende noch nicht in Sicht.
Für Batterien sieht es genauso aus: Die Kosten für LiIon Batterien sind in 30 Jahren um 97 % auf 3 % gefallen, aber wir brauchen inzwischen kein Lithium mehr in Batterien, sondern können Natrium verwenden. Das ist aber genau überhaupt kein kritischer Rohstoff, sondern in Massen verfügbar.
Genau wird auch Kobalt nicht mehr gebraucht und viele andere seltene oder schwierige Rohstoffe sind ersetzbar geworden. Quelle
Entsprechend hat sich die Anzahl der installierten PV Batteriesysteme in einem Jahr, in 2023, mehr als verdoppelt, und der Trend beschleunigt sich. Quelle
Alles, was ihr über die Probleme und die Kosten einer Energietransition wißt oder an Artikeln lest, das älter als 12 Monate ist, ist wahrscheinlich falsch und basiert auf veralteten Annahmen. Der Wandel passiert schneller, ist einfacher und gefahrloser und sehr, sehr viel billiger als ihr denkt.
Das ist übrigens nicht spezifisch für unsere Zeit.
Auch zur Zeit der industriellen Revolution kam es zu gravierenden Veränderungen, einer Landflucht und Verstädterung, und damit einhergehenden echten und eingebildeten Problemen.
Die Stadt Kiel, meine Heimatstadt, ist damals zum Beispiel in 30 Jahren um den Faktor 10 gewachsen.
Berlin ebenso. Ich habe in Berlin in einer Wohnung nahe der U6 Kaiserin-Augusta-Straße gewohnt. Die Wohnung war von 1908, und man kann dort durch die Straßen gehen stadtauswärts bis Mariendorf, und die Querstraßen sind wie Jahresringe: Vom Tempelhofer Feld bis Mariendorf wird die Bausubstanz mit dem Ausbau der U6 bis zur Endstation wie Jahresringe Querstraße um Querstraße immer jünger.
Auch damals hatte man eine Menge “Probleme”:
Die Dienstbotenfrage zum Beispiel ist eine Folge dieser Landflucht–Haushaltsführung war weitgehend manuell, und auf das Vorhandensein großer Mengen abhängiger und niedrig ausgebildeter Arbeitskräfte angewiesen. Die waren dann aber schlagartig nicht zu kriegen.
Während die Politik das Problem noch diskutierte, hatte man den Haushalt automatisiert–Waschmaschinen und Staubsauger, basierend auf dem Siemens-Elektromotor, haben sehr große Teile der anfallenden Arbeiten mechanisiert.
Genau dasselbe Problem hatte man in der Landwirtschaft: Durch die Landflucht hatte man ein Personalproblem. Aber auf einmal gab es Traktoren und eine mechanisierte Landwirtschaft.
Um 1900 herum schien es, als ob dieselbe Landwirtschaft auf der vorhandenen Fläche die wachsende Bevölkerung nicht ernähren würde können. Aber auf einmal gab es chemische Düngemittel und das Haber-Bosch-Verfahren (1913), und etwa um dieselbe Zeit entwickelte Bayer Pestizide und Herbizide (Dinitrol und andere), sodass Ernteausfälle und Hungersnöte aus anderen Gründen als Krieg in Europa der Vergangenheit angehörten.
Die Politik hat dennoch bis in den 2. Weltkrieg rein von notwendigem Lebensraum für das Volk geschwafelt. Das ist auch ein Fall von Leuten, die ihr Gehirn mit den Problemen ihrer Jugend belasten und ihr Weltbild nicht aktualisiert haben.
Vermutlich sind Menschen nicht gut gemacht für Veränderungen, die schneller als in 30 Jahren ablaufen. Oder wir haben noch keine funktional wirksamen Kulturtechniken entwickelt und Prozesse etabliert, mit denen wir solche Veränderungen zuverlässig kommunizieren und managen können.
Wie gesagt, gegenwärtig sind wir bei 3 Jahren Zykluszeit mit Leuten, deren Weltbild 30 Jahre und länger in Bernstein konserviert worden ist. Das ist ein Problem.
Man muss sich selbst da aktiv einbringen und aktualisieren.
Ich hatte, wie viele Kinder meiner Generation, in meinem Regal hier gut 50 Was-ist-Was-Bücher aus den 1980er Jahren stehen. Hier sind die überlebenden Bände zu sehen.
Man kann sich diese Was-ist-Was Bände nehmen und mit einem großen orangen Textmarker durchgehen. Markiert man veraltete, falsche oder überholte Informationen, kommt da schon eine ganze Menge zusammen. Markiert man auch inzwischen gelöste Probleme, noch weitaus mehr. Die Teile sind nicht falsch per se, aber sie sind 40 oder 50 Jahre alt, und wir haben seit damals viel gelernt.
Reality has a well-known liberal bias
Das Problem ist: Es handelt sich um lebendige Geschichte. Die Leute, die mit diesen Informationen groß geworden sind, leben noch und sind heute in Entscheidungspositionen. Und machen da gefährlichen Quatsch, der auf falschen oder veralteten Daten beruht. Das ist schlecht.
Wenn Stephen Colbert scherzhaft sagt “Reality has a well-known liberal bias”, dann bezeichnet das auch genau das: Leute mit konservativem, veraltetem Weltbild scheitern an einer sich ändernden, progressiven Realität.
Heise schreibt: Kommentar: Massenexodus bei Grindr – von den (Un-)Schönheiten des Homeoffice Ein Kommentar, der sich am Massenexodus bei Grindr abarbeitet, aber nicht weiß, was er will.
Bei Grindr bildet sich eine Gewerkschaft, und viele Mitarbeiter werden Mitglied. Aus Rache führt die Firma Hybrid mit mindestens 2 Tagen pro Woche Anwesenheit ein. Daraufhin kündigen mehr als 50 % der Mitarbeiter.
Der Artikel sieht das nicht als collective action der Mitarbeiter, sondern als eine Folge von Individualentscheidungen. Er sieht auch irgendwie Vorteile für die Firma (“Geringere Kosten” und magische “höhere Produktivität”), und versucht dann eine Art Brücke zu schlagen (“Firmen sollten auf Mitarbeiter hören.”).
Das ist in Summe aussagelos und von der wirtschaftlichen Analyse her Quatsch.
In den drei Covid-Jahren haben sich in allen Firmen sehr stabile und produktive Remote-First Strukturen ausgebildet. Sehr viele Mitarbeiter haben sehr schnell gelernt, dass zweimal eine Stunde Commute pro Tag mehr Belastung waren, als sie bewusst bemerkt haben. Sie waren sehr froh, diese Lebenszeit zurückzubekommen.
Zudem haben sie gemerkt, daß Management by Objectives – nahezu die einzige Methode, die Remote First funktioniert – viel sinnvoller ist als fast alles andere.
Wer mehr wissen will: Florian Haas hat darüber ja auch schon unter Referenz auf die Auftragstaktik nachgedacht und in The Art of Action beschäftigt sich quasi ein ganzes Buch mit dem Thema “Auftragstaktik in der Unternehmensführung umsetzen” und Clausewitz “Vom Kriege” in der Wirtschaft.
Wenn Unternehmen nun – aus welchem Grund auch immer – versuchen, das zurückzudrehen, dann erzeugen sie damit eine große Unzufriedenheit bei ihren Mitarbeitern und drehen die Fluktuation hoch bis zum Anschlag. Sie machen dabei keinen Gewinn, denn sie verlieren genau die Mitarbeiter, die sie behalten müssen und wollen. Unternehmen bluten vom Kopfe her.
Und sie schneiden sich von einem Arbeitsmarkt ab.
In dem wegweisenden Essay The Trimodal Nature of Software Engineering Salaries in the Netherlands and Europe beschreibt Gergely Orosz die Struktur des Arbeitsmarktes bei Wissensarbeitern.
Er tut das am Beispiel von Amsterdam, aber meiner Erfahrung nach ist das weltweit so, mit unterschiedlichen Limits bei den lokalen Märkten. Unternehmen müssen wissen, aus welchem Pool sie Personen ansprechen und einstellen wollen, und sie müssen wissen, wie man mit der entsprechenden Gruppe Leute arbeitet. Der Vorteil von Remote First Unternehmen ist, daß sie aus dem globalen Markt einstellen können, aber oft zu Preisen aus einem nationalen Markt.
Ein frühes Beispiel dafür war MySQL AB, die mit 500 Leuten in 26 Ländern ein extremes Beispiel für eine verteilte Firma waren, und die weltweit eingestellt hat, aber keinen Umzug gefordert hat.
Stattdessen hat man bewusst Strukturen geschaffen, in denen ein verteiltes Team Gemeinschaft bildet, sich 4x im Jahr getroffen (in Ländern, die unproblematisch mit Visa umgingen), und man hat diese Treffen systematisch vorbereitet, damit sie effektiv waren. Und ja, jede Menge MbO/Auftragstaktik.
Eine moderne Beschreibung solcher Methoden findet man in Effective Remote Work von James Stanier.
In den drei Covid-Jahren sind in vielen Firmen ebenfalls solche Strukturen entstanden, aber oft zufällig, partiell, nicht gesteuert und unverstanden.
Wenn ein solcher Laden jetzt aus welchem Grund auch immer “Return to Office” ausruft, dann passieren mehrere Dinge:
Welche Leute werden gehen?
Zuerst immer die, die Optionen haben. Also die hoch qualifizierten, deren Recruiter-Spam in der Inbox am größten ist. Der Pull-Faktor ist ja schon da, den Push und den Anlass hat die Firma eben geliefert.
Es sind also gerade die Leute, bei denen der Arbeitgeber einen Anlass hat, Retention zu fahren, die der Arbeitgeber zuerst verliert. Das ist immer und für jede Firma ein sehr großer Nettoverlust, und noch dazu ein schlecht gesteuerter.
Wenige Läden können einen Verlust von 50 % der Belegschaft verkraften, ohne dass es zu einem massiven Verlust an Qualität, Produktivität, organisatorischem Wissen und Prozeßreife kommt.
Neben dem Verlust an Know-How und nicht verschriftlichtem Wissen, der erhöhten Arbeitslast für die verbleibenden Mitarbeiter kommt noch der Druck auf alle für Interviews und Training neuer Kollegen dazu. Das erzeugt eine Delle in Qualität und Produktivität von 1 bis 2 Jahren, Stagnation oder gar Regress. Es gibt kein Wertmodell für eine Firma, in der so etwas positive Auswirkungen hat.
Etwas Ähnliches passiert bei Entlassungen: Neben den Leuten, die man entläßt (gesteuert und nach Ansicht der Firma am unteren Ende) wird man gewiss noch 2x mehr Leute verlieren, aber am oberen Ende. Für diese Menschen ist der zweite, ungeschriebene Vertrag gebrochen worden, und sie nehmen die resultierende Unsicherheit als Anstoß, Pull-Faktoren nachzugeben.
In jedem Fall bluten Firmen bei solchen Änderungen. Sogar dann, wenn sich nicht aus billiger Rache erfolgen, sondern gesteuert und mit Unterstützung des Managements sanft durchgeführt werden, kommt es leicht mit großen zweistelligen prozentualen Verlusten und jahrelangen Folgen.
Firmen lernen gerade, wie wichtig Personen als Individuen sind. Viele Organisationen sind mit dieser, der kapitalistischer Ideologie widersprechenden Erfahrung sehr unzufrieden und tief in Denial.
Companies forcing their employees back into the office will lose talent and keep wage serfs. – Volker Weber (@vowe@social.heise.de )